Ich war darauf vorbereitet und bin doch überrascht, ein leichtes Vibrieren und dann das plötzliche Gefühl von Schwerelosigkeit. Ich habe keinen Steuerdruck mehr und versenke meine Hände an den Bremsen. Aber da ist nichts, nur freier Fall. Das Adrenalin schießt in den Körper, ich muss im Flug wohl eingeschlafen sein. Ich öffne die Augen und starre auf die Rückenlehne eines Flugzeugsitzes.

Der Flieger von Ljubljana nach Zürich befindet sich noch im Steigflug und wackelt heftig in den Turbulenzen. Ein Blick aus dem Fenster, im letzten Licht sehe ich links unter mir die Wiese, auf der ich vor wenigen Stunden gelandet bin. Im Hintergrund die ersten Lichter von Ljubljana, der Hauptstadt Sloweniens. Neben mir ziehen noch einige Cumuli vorbei, die sich mit zunehmender Höhe schnell in Lenticularis umwandeln. Vor uns im Westen grosse Gewitterzellen. Der Captain meint, wir würden diese problemlos umfliegen, sollten aber die Sicherheitsgurte wegen der Turbulenzen doch lieber geschlossen lassen. Aber eins nach dem anderen.

Die Idee, inspiriert von Beat Gisin, war schon lange in meinem Kopf: mit Gleitschirm und Zelt solo von Nizza zurück nach Norden Richtung Annecy und falls möglich dann Richtung Osten. Zeitbudget eine Woche, bis ins Wallis für mich fliegerisch Terra Incognita.

Sergio, mein Freund und ehemaliger Fluglehrer war weniger optimistisch. Kommentare wie “… vielleicht schon etwas wild ganz alleine, …starke Thermik so im Hochsommer, …X Alps von drei Jahren, da wars auch recht windig…” prägten unsere Unterhaltung. Aber mal ehrlich, für mich als Bergsteiger, Fluglehrer und Sicherheitstrainer, der im Schatten vom Boot aus gute Ratschläge an andere verteilen kann, kein Problem.

Außerdem ist der Flieger von Easyjet schon gebucht und so als guter Schweizer mit deutschen (Spar-) Wurzeln lasse ich doch das Ticket für 35 Euro nicht verfallen.

Die Woche der Wahrheit ist gekommen. XC Therm verspricht für Mittwoch, 20.7. in Südfrankreich über 100 Km potentielle Flugdistanz und auch die Folgetage sehen im Süden gut aus. Nur, was bedeutet nochmal die Farbe Gelb im Windlayer von Windy?

Hatte mein fliegerischer Mentor (ich nenne ihn nur noch Coach) doch wieder recht und eine weniger windige Alternative musste her. Die Alpensüdseite sah für mehrere Tage gut aus, Wind aus Süd bis West, keine Gewitter und gute Thermikprognose trotz Hitzewelle in der Po Ebene.

Der Coach empfiehlt den Monte Generoso südlich von Lugano als Ausgangspunkt und ich hatte mittlerweile aufgehört, die Anweisungen zu hinterfragen. Als Ziel wurde Slowenien gesteckt, welches ich vom letzten Jahr fliegerisch schon etwas kannte.

Das Problem: gerade die erste Hälfte der Strecke bis Trient, nördlich des Gardasees ist keine “Autobahn” sondern eine Folge von Nord-Süd Tälern und Bergketten, die es in schöner Regelmäßigkeit zu queren gilt. Die Lösung besteht darin, im XC Planer nur weit genug heraus zu zoomen, dann werden die Talsprünge ganz klein. Und wie sagt der Coach: gross denken.

Ich hatte mir vorgenommen, die Strecke natürlich möglichst fliegend zu bewältigen und war mit Zelt, Schlafsack, Kocher und Verpflegung weitgehend auf Selbstversorgung eingerichtet. Allerdings war für mich klar, dass ich im Zweifel auch auf Hotel, Bus oder Seilbahn zurückgreifen würde, sofern sich dies aufdrängen würde. Man könnte auch sagen, nach aussen X Alps Athlet, innerlich doch ein wenig Tourist.

 

Tag 1

Monte Generoso – Passo di Zambla (64 Km)

In der Zahnradbahn bin ich der einzige Gleitschirmflieger und zugegeben, etwas mulmig ist mir schon. Es ist weniger die technische Seite des Fliegens, als die Größe und Unwägbarkeit des Vorhabens. Aber genau darin besteht ja auch der Reiz. Mit dem Gedanken, dass ich ja niemandem Rechenschaft schuldig bin, keine Sponsoren befriedigen muss und meinen Lebensunterhalt anderweitig verdiene, beruhige ich mich etwas. Auch der gute Ratschlag, ein sicherer Start und die erste Thermik stehen immer am Anfang eines jeden Streckenflugs, gehen mir durch den Kopf.   

 

Erst am Startplatz fällt mir auf, dass ich zwar etliche Male meinen Rucksack mit allem gepackt und gewogen habe, nie jedoch auf die Idee gekommen bin, das Ganze auch mal im Lightness Gurtzeug zu verstauen. Hier beginnt meine viertägige Glückssträhne: mit etwas gutem Willen und unter nur leichtem Protest der Reißverschlüsse passt alles und am Ende hat es sogar noch etwas Platz für den Piloten.

Ein Segelflieger gibt mir den Startschuss und bereits mit dem ersten Schlauch kann ich aufdrehen, los gehts. Die Thermik steht zuverlässig über den Berggipfeln und die Anspannung weicht der Freude. Gleich zu Beginn muss ich den Comer See zweimal queren, hier ist mir auch Topografie noch klar, danach einfach mal nach Osten.

Der Blick wechselt ständig zwischen Gelände, Wolken, die sich langsam bilden und potentiellen Landeplätzen. Und genau hier beginnt der Unterschied zum “normalen” Streckenflug.

Der Landeplatz sollte nicht nur sicher sein sondern auch immer einen idealen Ausgangspunkt für einen potentiellen nächsten Flug bilden. Ich muss also Flanken, Grate und Gipfel ansteuern. Das Tal ist eigentlich nur Plan C, zwar mit mehr Arbeitshöhe aber auch mit der Aussicht auf die zu erwartende Höchststrafe, Laufen von ganz unten.

Ich halte Ausschau nach leicht geneigten, lieblichen Ostflanken und grasigen Gipfeln, ein Zeltplatz sollte dann möglichst eben sein und am besten neben einem einsamen kleinen blauen Bergsee liegen. Was ich sehe, sind steile, bewaldete Berghänge, felsige Gipfel und enge Täler mit und ohne Stromleitung. Na super. 

Nördlich von Bergamo noch eine grosse Talquerung und plötzlich viel Wind von Süden. Eine Flanke auf der anderen Talseite, nördlich von mir steht ideal zu Sonne und Wind und wird zudem noch von einer kleinen, wenn auch etwas zerfetzten Cumulus Wolke gekrönt.  Allerdings gibt es im Tal darunter absolut keine Landemöglichkeit. Wenns nicht klappt, muss ich umdrehen und gegen den Wind zum Landen ganz ins Haupttal zurück. Soll ich bereits am ersten Tag alles auf eine Karte setzen?

Ich entscheide mich für einen kleinen Bergkamm weiter südlich, an dessen Ausläufer ich eine Passstrasse erkennen kann. Fliegerisch nicht die beste Entscheidung und so stehe ich nach wenigen Minuten und vergeblichem Kratzen nach einem Spülgang am Boden.

Natürlich ärgert sich der ambitionierte Streckenflieger in mir, denn es ist erst halb vier und über den Bergen schweben weisse Wölkchen. Der erste Gedanke, Restart so schnell wie möglich und so packe ich zusammen und mache mich auf den Weg zur Passhöhe. Nachdem das Adrenalin in der Sonne verdampft ist, und sich die Betriebstemperatur der Füße längst im roten Bereich eingependelt hat, macht sich unbarmherzig eine Erkenntnis breit. Ich bin weder in der Luft noch am Boden Chrigel Maurer. Bis ich an einem potentiellen Startplatz ankomme, ist der Tag wahrscheinlich fliegerisch gelaufen und ein Abgleiter ins Tal bringt mich in eine schlechte Position für morgen. So ein Scheiss.

Wandern mit schwerem Gepäck in der Sonne und bergauf hat eine sedierende Wirkung auf das Gehirn und macht unseren Modellathleten langsam aber sicher etwas demütig. Als ambitionierter Bergsteiger war er das Tragen des Rucksacks eigentlich gewohnt und doch fällt ihm jetzt ein, weshalb man ihn bereits vor einigen Jahren nicht zur Newcomer Challenge zugelassen hatte: “ehemaliger Spitzensportler aber alt” hieß es im vertraulichen Kommentar. Vielleicht lag man da nicht ganz falsch. Muss er vielleicht etwas an seiner Einstellung oder am Selbstbild ändern?

Die X Alps Scheuklappen (weiter, weiter, weiter) schmelzen zuverlässig in der Hitze und werden vom Schweiß weggespült. Der Blick hebt sich mit jedem Schritt mehr vom schwarzen Asphalt und plötzlich ist da die Passhöhe… mit sanft geneigten grasigen Flanken, einem ebenen Campingplatz, einem lieblichen, nach Osten ausgerichteten Startplatz in Sichtweite und einem kleinen blauen… nein doch nicht. Aber immerhin eine Dusche und Pizza! Das Leben ist gut, ich bin angekommen und habe mich durch einen vermeintlichen Fehler in eine optimale Ausgangsposition für den nächsten Tag gebracht.

 

 

Tag 2

Monte Pulpito – Bassinale 39 Km

Colletto di Baccinale – Levico Terme 100 Km

600 Höhenmeter sind es zu meinem designierten Startplatz (ich verzichte auf eine Zeitangabe). Ich habe drei Liter Wasser eingepackt, genug für den Tag. Sechs Liter wären besser gewesen, wie sich später zeigen wird.

 

Beinahe schon unspektakulär verläuft der erste Teil des Tages bis zur grossen Talquerung nördlich des Iseo Sees. Mit dem Coach hatte ich die Route diskutiert und wir hatten versucht, bekannte Thermik Hotspots und Rennstrecken zu verbinden. Sagen wir es mal so, mit meiner Route befinde ich mich auf einer thermischen Schotterstrasse mit kurzen Asphalt Stücken und mit genügend Schwung kann ich die Schlaglöcher überspringen.

Auf der anderen Talseite biegt die Thermik Autobahn nach Süden ab und ich muss die Richtige Ausfahrt nach Osten finden. Hier erneut die Entscheidung, besserer Thermik Anschluss oder bessere Top Landemöglichkeit, wenn ich es nicht über den nächsten Bergrücken schaffe. Es reicht dann ganz knapp nicht über die Kuppe und ich bin froh über die perfekte Landewiese.

 

Und sofort kommt das Telefon: “super gemacht, so wie der Chrigel. Lieber ein paar Meter laufen als im Tal stehen. Sind nur wenige hundert Meter und du kannst grad wieder rausstarten, das Gelände sieht gut aus. Und übrigens, stell die Intervalle von deinem Tracker runter, ich halte das nicht aus, nur alle 20 Minuten ein Update zu bekommen.” Bisher hatte ich einen Coach, jetzt hatte ich einen live Supporter.

Mit der nächsten Whatsapp Nachricht kam auch schon die Route bis zum Gardasee (no pressure), sieht super aus, vielleicht etwas windig…

Im Tal nördlich des Idro Sees ist es dann 30 Kmh windig und am parallelen Ridge entsprechend turbulent. Der Begriff “Kampfsoaren” setzt sich in meinem Kopf fest und ich tröste mich damit, dass man ja auch rückwärts fliegend Strecke machen kann.

Irgendwie gelingt der Thermik Anschluss und plötzlich kommt der Gardasee in Sicht. Endlich entspannen und ausgleiten, geschafft….

Ein Ping vom Natel holt mich aus meinen Träumen zurück: “mit der Höhe willst du da unten aber nicht landen gehen, oder? Hab dir grad das Bild mit deiner Route geschickt, Levico Terme ist das Goal und am Morgen fährt ein Shuttle zum Startplatz”. Wenn das keine Motivation ist.

 

Die von den Bodenstationen gezeigten 5 Kmh Wind stehen im krassen Widerspruch zu den langen, weissen Gischt Streifen, die die Kitesurfer auf dem Gardasee hinter sich herziehen. Irgendetwas stimmt da nicht.

Ich stelle mir den Wind jetzt wie eine grosse, stehende Welle vor dem Berg in meiner Flugrichtung vor. Damit verliert er trotz der Stärke irgendwie etwas an Bedrohlichkeit und ich freue mich auf die Surfeinlage. Dafür nehme ich doch gerne etwas Weißwasser, in meinem Fall Turbulenzen im Vorfeld in Kauf. Die erste Welle katapultiert mich auf über 2000m, die Zweite im nächsten Tal auf 3000m unter die letzte Wolke des Tages und ich kann den Startplatz des nächsten Tages locker im Gleiten erreichen, oh yes!

Oh no! Wo ist der keine blaue Bergsee, an dem ich mein Wasser auffüllen kann? Wir erinnern uns, ich bin morgens mit drei Litern aufgebrochen und die sind längst verbraucht. Die Freude auf Camping Romantik weicht der Sorge vor dem langsamen Tod durch verdursten (wir erinnern uns, Hitzewelle) und ohne Wasser ist auch meine Trockennahrung wertlos. Würde ich die Nacht überstehen hätte ich kein Wasser für meinen Kaffee. No Way.

Also doch ins Tal. Immerhin, glatte Wiese, grosser blauer See, Shuttle, Landebier und Pizza.

Fazit: Hammertag und ideale Ausgangsposition für die Rennstrecke (endlich) Richtung Belluno.

 

Tag 3

Panarotta (Levico Terme) – Meduno 129 Km

Meduno – Gemona 30 Km

Ich nehme das Shuttle um 8:00 um rechtzeitig am Startplatz zu stehen. Bis unter die Haarspitzen motiviert stelle ich mir vor, wie ich im Vollgas den ganzen Tag am Ridge entlangfräsen werde. Aus Langeweile, es ist 8:45, spiele ich mit der Thermal Map, meiner “Autobahnkarte” und ich schalte zum Spass mal die Skyways aus. Ernüchtert muss ich feststellen, dass es sich doch nicht um einen durchgehenden Bergrücken handelt sondern weiterhin Talquerungen auf dem Programm stehen. Als die Locals um 11:30 eintreffen bin ich immer noch da. Jetzt Ruhe bewahren, ich muss keine Rekordstrecke fliegen, lieber auf ein paar Begleiter warten.

Um halb eins halte ich es nicht mehr aus und starte zielstrebig in die thermische Mittagspause. Die Locals sind entweder schon weg oder stehen am Boden und ich lerne, nicht jeder der in Italien italienisch spricht, ist auch ein Local.

Im Schlauch direkt vor dem Startplatz fange ich mir dann den einzigen Klapper der Reise ein, bei dem sich aber dummerweise zwei Leinen der Bremsspinne verknoten und mich beinahe zur verfrühten Landung zwingen. Irgendwie löst sich der Knoten dann wegen oder trotz meines Inputs und es kann endlich losgehen.

Ich habe vorsorglich fünf Liter Wasser geladen, aber dummerweise hinten im Rückenfach. Damit kippe ich so weit nach hinten, dass ich nach vorne vor allem meine Fußspitzen sehe. Andererseits muss das sicher die aerodynamisch beste Position sein, wenn Kopf und Fußplatte auf einer Ebene liegen.

Nördlich von mir ziehen die höchsten Dolomitengipfel und die Spitzen der Palagruppe vorbei, gut kann ich die Klettereien und den Startplatz vom letzten Herbst erkennen. Die Gegend ist schon einmalig und ich freue mich auf meine Dolomiten Flugreise im September.

Die Thermik zieht jetzt zuverlässig und ich kann die Hotspots problemlos verbinden. Trotzdem bin ich angespannter, als an den vergangenen Tagen. Wenn ich hier und bei diesen Verhältnissen einen Fehler mache würde ich mich viel mehr ärgern, als im komplizierten Gelände. Wem auf der Autobahn der Sprit ausgeht, der bekommt ja auch eine Busse.

 

Hinter Belluno würde mich die direkte Linie entlang der hohen Berge nach Osten führen, Topografie super, Landemöglichkeiten ungewiss. Zudem steigen nördlich von mir und in meinem Rücken die Wolken immer höher in die Stratosphäre. Die sichere Variante führt jetzt nach Süden und an die vorderste Kette, die Bassano mit Meduno verbindet. Der Wind bläst jetzt wieder deutlich von Süden, was die Traverse erschweren könnte, mir aber vorne ideale Verhältnisse bescheren sollte. Die Entscheidung fällt beim Anblick einer sich bildenden Wolkenstrasse und einem Segelflieger. Blinker rechts, ab nach Süden. Der Supporter ist der gleichen Meinung.

 

Im Gleitflug erreiche ich den Vorhügel des Fluggebietes von Meduno. Mit etwas Glück gelingt der Anschluss und schon befinde ich mich mitten in einer Wolke von italienischen Wagga Piloten und (vermutlich deutschen) Flugtouristen in ganzkörper Overalls (über meine Landsleute darf ich so etwas sagen, oder?).

 

Es ist sechs Uhr und eine Entscheidung muss her. Ich bin bereits weiter gekommen, als erwartet und der Platz wäre toll zum campen. Wasser hätte ich ja nun auch genug, aber geht es von hier aus morgen weiter? Toplandung und Telefonkonferenz mit Sergio. “Flieg weiter, mit einmal aufdrehen kommst du bis Gemona. Wenn das klappt, bist du morgen in Slowenien”. Schon klar und ganz einfach so vom sicheren Schreibtisch aus und sind ja nur 30 km abends um sechs bei blauem Himmel. Ich fliege weiter, erwische die letzte Thermik des Tages, drehe einmal auf und gleite bis Gemona.

 

 

Tag 4

Monte Cuarnan (Gemona) – Skofja Loka 96 Km

Der Bus des lokalen Clubs nimmt mich zum Startplatz mit. Ich wäre aber auch gelaufen, ganz ehrlich. Die Strecke ist jetzt eindeutig, lediglich ein Talsprung und ich wäre am Ridge, welches ohne Unterbrechung bis nach Kobarid in Slowenien zieht. Diesen Teil kenne ich bereits vom letzten Jahr, was so etwas wie Heimatgefühle aufkommen lässt.

Leider zeigt XC Therm für diesen Tag null (ja 0) Km potentielle Flugdistanz. Die Prognose zeigt schnell aufziehende Bewölkung, abends Regen und stark zunehmenden Wind aus Westen. Im Tal hatte es morgens bereits gut 20 Kmh Wind. Immerhin die Richtung stimmt. Ich überschlage schnell: mit Gleitzahl 1:9 komme ich ins nächste Tal, von dort aus zu Fuss in gut fünf Stunden zu einem Startplatz, von dem aus ich nach Slowenien abgleiten kann.

Am Startplatz ist es sonnig aber es schweben bereits etliche Castellanus Wolken im Himmel. Wenn ich fliegen will, muss ich mich beeilen. Zur Sicherheit lade ich mir noch schnell die Wanderkarte herunter, denn ich bin fest entschlossen, Slowenien irgendwie zu erreichen. Für morgen ist zudem schlechtes Wetter angesagt.

Der Bartgeier gibt mir großzügigerweise etwas von seiner Thermik ab, bis wir uns auf 2500m trennen, er nach Westen, ich nach Osten. Ab hier gibt es keinen Zweifel mehr, dass ich mein Ziel Kobarid oder Tolmin erreichen werde zumal ich unbeschleunigt bereits mit 50 kmh unterwegs bin. Ein schnelles Siegerfoto per Whatsapp an den Supporter, alles im grünen Bereich. Ich weiss sogar schon, auf welchem Campingplatz ich mein Zelt aufschlagen und wo mein Landebier trinken werden.

 

Über dem Kobala, dem Hausberg von Tolmin fängt das Vario wieder an zu piepsen und ich drehe instinktiv ein obwohl ich eigentlich schon den Landeplatz im Visier habe. Mittlerweile ist nur noch ein Delta mit mir in der Luft, alle anderen Gleitschirme sind bereits gelandet. Beim Drehen versetzt es mich jetzt deutlich nach Osten und ich muss mich entscheiden. Zuerst kann ich in Flugrichtung in einem schmaler werdenden Tal noch Landemöglichkeiten erkennen, nach ein paar Kilometern knickt es aber nach Norden ab und ein bewaldeter Berg versperrt mir die Sicht. Die logische Linie liegt nördlich von mir, entlang einer markanten Bergkette, allerdings habe ich Sorge, dass der zunehmende Wind entlang der Berge starke Turbulenzen erzeugen könnte.

Wenn ich jetzt weiterfliege, kann ich nicht mehr zurück. Das einzige Mal auf dieser Reise treffe ich eine Entscheidung, bei der das Prinzip Hoffnung eine größere Rolle spielt als mir eigentlich lieb ist und der Ehrgeiz die Oberhand bekommt. Was würde Chrigel machen? Ich fliege weiter.

Mittlerweile bin ich im Trimm mit über 60 Kmh unterwegs, da geht dann alles sehr schnell. Gerne hätte ich jetzt eine Referenz neben mir, die mir sagt, ob ich noch im grünen, gelben oder bereits im roten Bereich unterwegs bin.

Der nächste Prallhang steht perfekt im Wind und muss jetzt einfach tragen. Aber wenn nicht? Hinter jeder Rippe spüre und höre ich das Sinken und mag mir nicht vorstellen, wie es sich tiefer im Lee auf meinen potentiellen Notlandeplätzen anfühlt.

Innerhalb von Sekunden wechselt der Varioton von einem stetigen Brummen zu einem durchgehenden Pfeifen. Ich drehe den Schirm um 180 Grad und fühle mich, als würde ich rückwärts eine Big Air Schanze hochschiessen. Wie viele Saltos und Schrauben machen die mit ihren Skis nochmal, wenn sie oben angekommen sind? Irgendwie bin ich noch froh über mein Acro Training aber ausprobieren würde ich die Tricks doch lieber über Wasser.

Ich bekomme keine Punkte in der Acrowertung, weder am ersten noch am zweiten Berg. Noch eine Thermik, die mir 700m Höhe beschert und mich gleichzeitig um über zwei Kilometer versetzt (richtig ich habe einen Schlauch mit “Steigzahl” von 1:3), dann habe ich es geschafft.

Hinter dem Pass öffnet sich ein weites Tal mit grünen, flachen Wiesen und einem Flüsschen, dass an einigen Stellen wie eine Kette kleiner blauer Seen aussieht. Einen leicht geneigten, lieblichen Osthang für den nächsten Tag brauche ich nicht mehr. In der Ferne sehe ich Ljubljana, die Hauptstadt Sloweniens.

 

 

Weiter geht es nicht mehr, die Berge sind zu Ende und der CTR des Flughafens versperrt mir den Weg ins Flachland. Wohin auch? Ich hatte mir ein Ziel gesetzt aber eigentlich nur, um eine Richtung zu haben. Dass ich dieses in wenigen Tagen erreichen würde, zumal zu 99% fliegend hätte ich nicht erwartet. Das Wetter war auf meiner Seite und es war auch immer mal wieder ein wenig Glück im Spiel. Aber eben, ein sicherer Start aus einer guten Position, die erste Thermik und dann einfach mal gross denken.

Peter Goertler